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Wehrmachtrichter in der Bundesrepublik und ihre Opfer
Joachim Perels / Wolfram Wette (Hg.): Mit reinem Gewissen
On-line gesetzt am 26. Februar 2012

Joachim Perels/Wolfram Wette (Hg.): Mit reinem Gewissen

Der Titel des Buches spielt auf eine Äußerung von Max Bastian an, der während des Zweiten Weltkriegs als Präsident des Reichskriegsgerichts in Berlin und Torgau wirkte. Das höchste Organ der NS-Militärjustiz verhängte drakonische Strafen gegen Kriegsdienstverweigerer, Deserteure und andere sogenannte Wehrkraftzersetzer und sprach mindestens 1.200 Todesurteile aus. Insgesamt gehen 30.000 Todesurteile auf das Konto der NS-Militärjustiz, von denen 20.000 vollstreckt wurden. Bastian indes wollte hierin kein Unrecht erkennen; nach Kriegsende von der französischen Besatzungsmacht in der Festung Rastatt interniert, verfasste er unter dem Titel "Meine Grundsätze" ein Memorandum, dessen Fazit lautet: "Eine Schuld gegenüber Menschen lehne ich mit reinem Gewissen ab."

Gemeinsam mit anderen vormaligen NS-Kriegsrichtern arbeitete Bastian nach 1945 daran, "das Geschichtsbild der Wehrmachtjustiz so aufzupolieren, dass eine reibungslose Integration ihrer Protagonisten in die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft gelingen konnte". Diese Einschätzung des Historikers Norbert Haase wird auch von den übrigen Autoren des Bandes gestützt. So befasst sich etwa der Direktor der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Detlef Garbe, mit dem langjährigen Dekan der Juristischen Fakultät der Universität Marburg, Erich Schwinge. Dieser, schreibt Garbe, avancierte im Dritten Reich nicht nur zum "führenden Militärstrafrechtsexperten", sondern "prägte nach 1945 jahrzehntelang das Bild der Wehrmachtjustiz als Verteidiger, Gutachter und Historiograph in eigener Sache, als politischer Lobbyist und einflussreicher Strippenzieher im Netzwerk der ehemaligen Kriegsrichter".

Im Fokus der Aufsatzsammlung stehen neben den (oftmals) ungebrochenen Karrieren der vormaligen NS-Militärjuristen und ihren Exkulpationsstrategien die von ihnen zu verantwortenden Opfer. Jacqueline Roussety stellt zwei Biographien einander gegenüber: die des NS-Kriegsrichters und späteren Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Hans Karl Filbinger, und die des von diesem persönlich exekutierten Deserteurs Walter Gröger. Herausgeber Wette, Manfred Messerschmidt und Günter Saathoff befassen sich mit der "späten Rehabilitierung" der Opfer der NS-Militärjustiz und der jahrzehntelangen Verweigerung einer staatlichen Entschädigung für die von ihnen erlittenen Bestialitäten. Auch einer, der den völkermörderischen Krieg des deutschen Faschismus nicht mitmachen wollte und desertierte, kommt zu Wort: Ludwig Baumann, heute Vorsitzender der "Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz". Sein Urteil über den am eigenen Leib erlebten Umgang der bundesdeutschen Gesellschaft mit Kriegsdienstverweigerern und Widerstandskämpfern fällt vernichtend aus: "Nach dem Krieg haben wir gehofft, dass unsere Handlungen anerkannt werden würden. Wir sind aber nur als Feiglinge, als Kriminelle, als Vorbestrafte, als Verräter beschimpft worden".

Aktuell wendet sich Baumann vor allem gegen die erklärte Absicht der hiesigen politischen Eliten, in Deutschland erneut eine Militärjustiz zu etablieren. Die an seinen Beitrag anschließenden Aufsätze von Rolf Surmann und Helmut Kramer befassen sich passenderweise denn auch genau mit diesem Thema. Surmann beleuchtet die bis in die Gründungsphase der Bundesrepublik zurückreichenden Versuche der Wiedereinführung einer deutschen "Wehrstrafgerichtsbarkeit", während sich Kramer mit den entsprechenden Gesetzesentwürfen des Bundesjustizministeriums aus jüngster Zeit auseinandersetzt. Der vormalige Richter am Oberlandesgericht verweist insbesondere auf die Gefahr, dass die hier in Aussicht gestellte "Rechtssicherheit" für Soldaten im Kriegseinsatz von Seiten der Bundeswehr als "Freibrief" für Massaker an Zivilisten gewertet werden könne. Dies wiederum entspreche, urteilt Kramer, einer "wichtigen, völkerrechtlich auch während des Zweiten Weltkriegs unbestrittenen Funktion einer Militärjustiz" - "militärische Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung okkupierter Länder zu legitimieren".

Dem Buch sind viele Leser zu wünschen. Es schlägt die Brücke von der NS-Geschichte über die Geschichtspolitik der NS-Eliten in der Bundesrepublik bis zum Wiedererstarken des deutschen Militarismus in heutiger Zeit.

Berlin 2011 (Aufbau Verlag)
474 Seiten 29,99 Euro ISBN 978-3-351-02740-7